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Wie stark wackelt Osteuropa?

Osteuropa-Experte im Gespräch mit Johannes F. Kretschmann über eine konstruktive zukunftsweisende Politik des Miteinanders

Mit der Stabilität der Europäischen Union und der Situation an ihren östlichen Rändern befasste sich die Online-Diskussionsrunde, zu der Johannes F. Kretschmann, Fraktionsvorsitzender der Grünen im Sigmaringer Kreistag und Kandidat für die Nominierung zur Bundestagswahl im Wahlkreis Zollernalb-Sigmaringen, eingeladen hatte. Als Redner konnte er MdB Manuel Sarrazin gewinnen, Sprecher für Osteuropapolitik der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen. Sarrazin ist ebenso Mitglied im Auswärtigen Ausschuss sowie im Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union.

„EU am Scheideweg? Grüne diskutieren über Osteuropapolitik“ lautete der Titel der Online-Veranstaltung, zu der sich 16 Teilnehmerinnen und Teilnehmer zugeschaltet hatten, darunter auch Dr. Ursula Eid, ehemalige parlamentarische Staatssekretärin der rot-grünen Bundesregierung. Über eineinhalb Stunden erstreckte sich der angeregte Dialog zwischen Manuel Sarrazin und Johannes F. Kretschmann sowie die Beantwortung der Fragen aus der Online-Runde. Der Fraktionssprecher der Grünen im Sigmaringer Kreistag sieht die EU möglicherweise an einem Scheideweg, der eine gewaltige Herausforderung bildet. Entscheidungen müssten getroffen werden. In dieser Hinsicht befragte er Manuel Sarrazin nach den Zielen, die es zu verfolgen gelte, und ob es so etwas wie Osteuropa überhaupt gebe. „Wo stehen wir als Grüne in dieser Debatte“, formulierte Kretschmann sein Hauptaugenmerk.

„Wir Grüne haben von Anfang an osteuropäische Beziehungen gepflegt, was die anderen Parteien nicht gemacht haben“, holte der Osteuropa-Experte aus. Deshalb seien die Grünen besonders gefordert, die Politik in diesem Sinne weiter zu befördern. „Dieses Erbe fordert uns auf, besonders glaubwürdig zu sein“, beschreibt er das Verhalten der Grünen in der Beziehung zwischen Deutschland und den Staaten Osteuropas. An Polen, dem ersten Beispiel seiner Ausführungen, machte er deutlich, dass Deutschland empathisch und aufgeschlossen sein müsse, um einen konstruktiven Dialog zwischen den Ländern zu erreichen. Dazu gehöre es, dass sich Deutschland der Vergangenheit stelle. Es sei beispielsweise in der Debatte nie besprochen worden, dass der Krieg wichtige Teile des polnischen Kulturerbes und dem Land ganze Generationen von Talenten genommen habe. „Wir haben die tiefer liegenden Schichten des Rassismus noch nicht aufgearbeitet“, betonte Sarrazin. Das betreffe auch das heikle Thema Reparationszahlungen. Juristisch sei dies nicht klärbar, doch könne Deutschland einen geeigneten Rahmen schaffen, um dauerhaft und unabhängig die polnische Kultur und Zivilgesellschaft in Deutschland, Polen und Europa ideell und finanziell zu unterstützen. Das stärke in Polen unter anderem die Kräfte, die sich für Frieden und Verständigung einsetzen. Die bisher abwartende Haltung der Bundesregierung sollte deswegen durch eigene Vorschläge ergänzt werden, wie mit der deutschen Schuld in Polen moralisch und finanziell umgegangen werden kann, ohne dass dieses aus deutscher Sicht zu offiziellen Verhandlungen auf Regierungsebene über Reparationszahlungen führt und beide Positionen ihre Rechtspositionen wahren können.

Johannes F. Kretschmann wies unter anderem auf die Situation der baltischen Staaten hin, die unter der starken Abwanderung ihrer Bevölkerung leiden. „Stellt es eine Gefahr dar, wenn der östliche Rand von Europa bröckelt“, formulierte er seine Befürchtung. Es gebe zwar eine besorgniserregende Abwanderung aus dem Baltikum, so Manuel Sarrazin, doch hätten die Länder das Potenzial, sich so weit zu entwickeln, dass es zu einer Rückkehrbewegung kommen könne. Er ging ebenso auf den Einfluss von Russland auf Osteuropa ein, die Einflussnahme der Amerikaner, die Schlüsselstellung Moldawiens sowie auf die Ukraine, Transnistrien, Kaliningrad und Zypern. Dass die Wiedervereinigung in Zypern gelingen könnte, sieht Sarrazin nicht mehr. Er habe dafür viel unternommen, doch seine Bemühungen mittlerweile eingestellt. „Die Wiedervereinigung ist so dermaßen ausverhandelt, dass jeder alles weiß“, beschrieb er die Situation.

Auf die Frage Kretschmanns, was wir für ein starkes Europa tun können, plädierte er für die Politik der kleinen Schritte. Es sei wichtig, die europäischen Institutionen zu stärken. Dass ein europäischer Gerichtshof eingreife, wenn demokratische Werte bedroht seien, hält er für ein wichtiges Instrument. Europa habe die große Aufgabe, Vielfalt und Homogenität zusammenzubringen. Pessimistisch beurteilt Manuel Sarrazin das Bestreben, eine europäische Armee aufzubauen. Er sieht nicht, dass das Projekt gelingen könnte.

Klaus Harter, der die Fragerunde moderierte, steuerte Einschätzungen aus seiner beruflichen Erfahrung in Russland bei. Unter den Menschen, mit denen er zu tun gehabt habe, das seien vorwiegend intellektuelle Städter gewesen, gebe es eine große Affinität zu Europa und zu Deutschland. Ihnen sei die Beeinflussung durch ihren Präsidenten Vladimir Putin durchaus bewusst. Sie fühlten sich jedoch von Europa nicht gehört. Manuel Sarrazin ergänzte dazu, dass es diese Kräfte, die Veränderung fordern, auch in der Regierung gebe. „Wenn wir in der Beziehung zur russischen Regierung nicht bei unseren Werten bleiben, werden diese Kräfte geschwächt“, warnt Sarrazin vor einer „verlogenen Annäherung“. „Haben wir die besten Chancen für eine Annäherung schon verpasst“, wurde gefragt, woraufhin von dem Osteuropa-Politiker ein klares Ja folgte. „Ich würde sagen, dass dieser Zeitpunkt bereits vor Putins Amtszeit lag“, erklärte er.

Am Ende des Veranstaltung berichtete Klaus Harter von einem Seminar in Russland. Dort seien die russischen Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu dem Ergebnis gekommen, dass die mangelnde Streitkultur und der Anpassungsdruck zu der häufig anzutreffenden depressiv-aggressiven Stimmung und damit in eine Alkohol-Problematik führen. Deshalb schloss der Moderator nach dem Dank an die Runde und die Referenten mit dem fröhlichen Appell an die Grünen, weiterhin die Tradition des konstruktiv miteinander Streitens beizubehalten, denn es gebe nicht die eine Lösung und die eine Wahrheit.

2. Juli 2020

Kreisverband Sigmaringen Bündnis 90/Die Grünen

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